Es ist nicht einfach, einen Film zu besprechen, der sich in seiner Dialogarmut hauptsächlich auf surrealistische und symbolische Kompositionen aus Bild und Ton stützt, dennoch ist Angel’s Egg von Mamoru Oshii wert, all jenen nähergebracht zu werden, die ein Werk nahezu ausschließlich aufgrund seiner Ästhetik genießen können und kein Problem darin sehen, dass der skizzenhaft umrissene Plot zahlreiche Interpretationsmöglichkeiten zulässt. Alle anderen könnten sich möglicherweise zu Tode langweilen.
Die Handlung spielt in einer Art postapokalyptischem Setting mit viktorianischer Architektur. Ein junges Mädchen (Mako Hyôdô) wandert durch die Stadt; unter ihrem Kleid verbirgt es ein mysteriöses, riesiges Ei, das es um jeden Preis zu beschützen scheint. Der einzige andere Mensch, dem sie auf den düsteren, trostlosen Straßen begegnet, ist ein Mann (Jinpachi Nezu), der ein großes Kreuz mit sich herumträgt. Obwohl seine Herkunft und seine Motivation unbekannt bleiben, begleitet er das Mädchen fortan. Die beiden begegnen auf ihrem Weg sonst keiner Menschenseele mehr. In einigen Straßenzügen jagen phantomhafte Gestalten körperlosen Schattenfischen hinterher, die im Vorbeiziehen die Fassaden verdunkeln, aber ansonsten bleibt die Stadt ruhig, einsam und ausgestorben. Das Mädchen und ihr Begleiter wechseln nur wenige Worte. Die längste Dialogpassage bezieht sich hauptsächlich auf Bibelstellen. Der Rest der Handlung erklärt sich (oder auch nicht) aus den Bildern. Was die gezeigten Geschehnisse tatsächlich zu bedeuten haben, bleibt letzten Endes dem Zuschauer selbst überlassen.
Trotz einer weitgehend einseitigen Farbpalette aus Grau- und Blautönen, sind die Hintergründe detailreich gestaltet und hübsch anzusehen. Der Zeichenstil von Yoshitaka Amano ist zwar vor allem bei den Figuren zunächst gewöhnungsbedürftig, aber von hoher Qualität; Fans der Final–Fantasy-Spielereihe dürften seine Artworks bereits bekannt sein. Der Soundtrack gibt sich über weite Strecken zurückhaltend, verwandelt sich aber in seinen Höhepunkten zu treibenden sakralen Chorälen, die die merkwürdige Atmosphäre ergänzen. Handwerklich gibt es an diesem Film nichts zu bemängeln, außer möglicherweise dem langsamen – und für manche Personen unerträglich zähen – Erzähltempo, das dem Zuschauer in manchen Szenen einiges abverlangen kann. Die gesamte Laufzeit hingegen ist mit 71 Minuten eher kurz ausgefallen.
Auf der inhaltlichen Ebene ist Angel’s Egg eine vielfach deutbare Reihe an Szenen, die zwar eine zusammenhängende Geschichte zeigen, aber nicht auf den ersten Blick begreiflich machen. Die Grundhaltung des Films kann ohne Zweifel als existentialistisch bezeichnet werden. Dazu streut Oshii dann noch ein paar seltsame Szenen ein, die an Gemälde Salvador Dalís erinnern. Das Ganze wird in den ohnehin spärlichen Gesprächen weiterhin mit Bibelzitaten und Arche-Noah-Bezügen ergänzt. Auf welchen Schluss man am Ende als Zuschauer auch kommen mag, Angel’s Egg ist vor allem eines: Eine visuelle Erfahrung der besonderen Art. Mamoru Oshii erweitert die Grenzen des Mediums Anime für ein Kunstwerk, das vielleicht genial ist, vielleicht aber auch prätentiös – oder eventuell beides.
Sehr schönes Review. Angels Egg zählt definitiv zu meinen Lieblingsanimes und es erscheinen selten Filme, welche so zum nachdenken und interpretieren anregen. Neben der offensichtlichen Handlung ist von religiösen Sichtweisen bis zu Symbolik der Protagonisten sehr viel Spielraum vorhanden.
Wem Angels Egg bzw Tenshi no Tamago gefällt, kann ich auch folgende Animes empfehlen:
Haibane Renmei, Experiment Lain, Mushishi, Kinos Journey, Paranoia Agent , Now and then – here and there, Key the metal idol, Filme von Satoshi Kon – leider vor einigen Monaten verstorben.
Es hat mich relativ Zeit gekostet um die DVD zu Angels Egg kaufen bzw erst finden zu können.
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Danke für deinen Kommentar.
Deine Empfehlngen sind ausgesprochen gut; vor allem Haibane Renmei und Serial Experiments Lain gehören seit längerem zu meinen Lieblingsanimes und kann auch ich nur weiterempfehlen. Und eigentlich alles von Kon natürlich auch.
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