Auf den diesjährigen internationalen Filmfestspielen von Cannes kehrte ein wunderlicher Franzose nach fast 13 Jahren mit einem neuen Langfilm zurück und war umgehend für die Goldene Palme nominiert. Die Rede ist von Leos Carax, der mit seinem neuesten Streich Holy Motors die Kritiker begeisterte; ganz anders als seinerzeit sein vorheriger Film Pola X aufgenommen wurde und den man auch vor allem aus finanzieller Sicht als gescheitertes Experiment bezeichnen muss. Dennoch lohnt sich ein näherer Blick auf die sperrige Literaturadaption (nach Herman Melvilles Roman Pierre: or, The Ambiguities), die eine eigentümliche Geschichte von Inzest und künstlerischer Emanzipation erzählt.
Pierre (Guillaume Depardieu) ist ein verwöhnter Erfolgsautor, reich, jung und schön. Er lebt mit seiner geliebten Mutter Marie (Catherine Deneuve) auf dem Land, in einem teuren Anwesen in der Normandie. Die andere wichtige Frau in seinem Leben ist seine Verlobte Lucie (Delphine Chuillo), die er bald ehelichen wird. Es mangelt ihm an nichts in dieser idyllischen kleinen Welt, fernab vom Lärm der Städte, wie in einer längst vergangenen Epoche. Als jedoch eine mysteriöse fremde Frau (Yekaterina Golubeva) in sein Leben tritt und sich als seine Schwester offenbart, lässt sich Pierre auf ein inzestuöses Verhältnis und eine Abkehr von seinem bisherigen Leben ein.
Zu den zentralen Motiven von Pola X gehören definitiv die Veränderung, der Wandel und das Lösen von gefestigten Verhältnissen. Dies zeigt sich einerseits im Privaten, wenn Pierre plötzlich sein isoliertes Dasein auf dem Land, seinen vermögenden Lebensstil, in dem es ihm an nichts mangelt, aufgibt und sich mit seiner neu entdeckten Schwester Isabelle nach Paris aufmacht. Auf der anderen Seite geht es für Carax allerdings noch stärker um Pierres Selbstverständnis als Künstler, indem er ihn sich einer anarchistischen Künstlerkommune anschließen lässt, die für ihre gesellschaftskritischen und bisweilen terroristischen Tendenzen ein heruntergekommenes Lagerhaus als Stützpunkt nutzt. Er wendet sich gegen die Seichtheit des Populären und die Anbiederung an die Masse, die zwangsläufig zu Lasten einer Wahrhaftigkeit im Verhältnis zwischen Künstler, Werk und Publikum geschieht und sucht nach einer neuen Ehrlichkeit in der Kunst. Dass Pierres neugewonnene Ansicht vom Künstlertum auch ein Stück weit die persönliche Einstellung des Regisseurs wiederspiegelt, ist naheliegend, gilt der Franzose selbst schließlich als eigenwilliger Künstler.
Leos Carax inszeniert Pierres Wandel in unaufgeregten Bildern. Obwohl Melvilles Romanvorlage aus dem Jahr 1852 stammt und die Handlung für den Film vom Amerika des 19. Jahrhunderts in das Frankreich der Gegenwart verlegt wurde, wirken die Handlungsorte oft seltsam zeitlos. Autos, Straßenschilder und Fernseher weisen das moderne Setting zwar als solches aus, bleiben aber kleinere Details; die Handlung scheint sich viel mehr in einem ganz eigenen, filmischen Kosmos abzuspielen. Der Kontrast zwischen dem ländlichen Idyll und der verschmutzten Großstadt hatte zu Melvilles Zeiten kurz vor und während der Industrialisierung der Vereinigten Staaten eine größere Bedeutung und ist durch die Verlagerung des Geschehens einiger Kontexte beraubt, funktioniert in Pola X aber speziell auf der ästhetischen Ebene noch tadellos. Durch die ruhige Erzählweise, die den Figuren und ihrer Umgebung Raum gibt, und die dichte, surreale Atmosphäre, geraten die sonnigen Wiesen der Normandie beim tristen Braun in Braun der Pariser Industrieanlagen in der zweiten Hälfte des Films beinahe in Vergessenheit.
Pola X ist schwerfällig und teilweise zäh bis anstrengend. Dazu trägt auch das leider etwas steife Spiel von Guillaume Depardieu als Pierre bei. Dass Carax damit an den Kassen floppte, ist keine Überraschung, doch wenn man sich auf diesen Weg eines verwöhnten Schriftstellers zum heruntergekommenen Gesellschaftskritiker einlässt, auf einen Weg von der Populärliteratur zur künstlerischen Wahrheit, dann besteht die Möglichkeit, ein ungewöhnliches, aber unheimlich faszinierendes Stück Fim zu erleben.