Sterben auf dem Land

Sterben auf dem Land - FilmplakatEines der zentralen Themen des avantgardistischen Films im Nachkriegsjapan ist die Frage nach der Identität; Identität der Nation, Identität der Gesellschaft, Identität des Individuums. Letztere steht im Mittelpunkt von Shūji Terayamas quasi-autobiografischem Drama Sterben auf dem Land, in dem er die narrative Rahmung des Films aushebelt, um die Unwahrheit des menschliches Selbstverständnis zu illustrieren.

Der erste Akt ist noch relativ konventionell gehalten und erzählt von einem Jungen (Hiroyuki Takano), der sein Zuhause und seine Mutter zurücklässt, um seinem bisherigen Landleben zu entfliehen. Mit der schönen Nachbarsfrau soll es in die große Stadt gehen. Der zweite Teil des Films offenbart jedoch, dass es sich bei dem bisher Gesehenen um eine ausgedachte Geschichte handelt, die Teil eines noch unvollendeten Films ist. Regisseur dieses Films ist niemand anderes als der Junge selbst, 20 Jahre später (Kantarō Suga). Sämtliche erzählerische Richtlinien fallen endgültig in sich zusammen, wenn er als Erwachsener in seine eigene Vergangenheit tritt, um seine Mutter zu ermorden.

Sterben auf dem Land ist definitiv nicht um eine kohärente Handlung bemüht, sondern beschwört absichtlich surreale Diskrepanzen und Paradoxien hervor, um Terayamas Überlegungen zu unterstreichen, dass die Wahrnehmung des eigenen Ichs aus einem unterbewussten Zusammenspiel von Erinnerungen, Träumen und Gedanken bloß konstruiert ist. Vergangenheit lässt sich umgestalten. Wenn diese Basis des gegenwärtigen Selbstverständnisses retrospektiv beeinflusst werden kann, ist das Ich nichts weiter als bewusste oder unbewusste Fiktion.

Terayamas surrealistisches, mit verspielten Farbfiltern und überlegter Mise en Scène überaus ästhetisches Drama dringt dadurch in der zweiten Filmhälfte immer stärker in Richtung eines experimentellen Essays vor. Klassische Erzählmuster lösen sich nach und nach auf und werden später als Illusion entlarvt. Ganz im Zeichen der Nūberu bāgu (Japanese New Wave) bewegt sich Sterben auf dem Land damit letztlich – vielleicht sogar noch mehr als andere Vertreter der Bewegung – irgendwo zwischen selbstreferenziellem Kunstwerk und philosophischem Diskurs. Wenn Film im Film und filmische Realität(?) miteinander verschmelzen, wird deutlich, dass Terayama keine Rücksicht nehmen und keinen anderen Weg wählen konnte, als diesen, um seinen Denkansatz mittels des filmischen Mediums zum Ausdruck zu bringen.

Sterben auf dem Land ist ein Metafilm durch und durch, der sich zwar gewisse formale und inhaltliche Unterhaltungswerte bewahrt, aber in erster Linie eben der (Selbst-)Reflexion dient. Kein leichter Stoff, aber eine lohnenswerte Erfahrung für interessierte Denker und faszinierte Anhänger der japanischen Avantgarde.


Originaltitel: Den’en ni shisu
Regie: Shuji Terayama
Drehbuch: Shuji Terayama
Produktionsland: Japan
Produktionsjahr: 1974

Copyright der Bilder: King Records

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2 Gedanken zu “Sterben auf dem Land

  1. Ein ganz wunderbarer Film, den Du da sehr treffend beschreibst. Der dreiste Twist in der Mitte des Films (während sowas sonst immer kurz vor dem Ende passiert) hat mich beim ersten Mal komplett aus den Socken gehauen. Neben WERFT DIE BÜCHER WEG UND GEHT AUF DIE STRASSE und DER PROZESS mein Lieblings-Terayama.

    Mich dünkt, dass er neben seiner eigenen Biografie und seinen Dämonen (sein Verhältnis zu seiner Mutter war tatsächlich, ähm, merkwürdig) auch an Imamuras A MAN VANISHES anknüpft, vor allem, was die Selbstreflexion des Filmemachers und die Meta-Ebenen betrifft. Die Schlussszene mit den fallenden Kulissen bei Terayama knüpft sehr direkt an eine entsprechende Szene in Imamuras Film an.

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