Manchmal muss man sich beeilen, ganz gleich, wie ungewöhnlich die eigene Idee auch sein mag. Mit Blancanieves hatte Pablo Berger einen modernen Stummfilm gedreht, doch für die ganz große Überraschung beim internationalen Publikum konnte er nicht mehr sorgen, da ihm Michel Hazanavicius mit The Artist (2011) denkbar knapp zuvorkam. Auswirkungen auf die eigentliche Qualität des Films hat das verpasste Timing aber selbstverständlich nicht.
Die Handlung lehnte Berger lose an das Märchen Schneewittchen der Gebrüder Grimm an, verlieh seiner Geschichte aber einen ganz besonderen Anstrich, indem er sie in das Stierkampfmilieu Sevillas zu Beginn des 20. Jahrhunderts verlegte. Hier ist Antonio Villalta (Daniel Giménez Cacho) ein gefeierter Torero, der die Massen begeistert. Doch das Schicksal meint es nicht gut mit ihm: Ein folgenschwerer Fehler in der Arena zwingt ihn fortan gelähmt an den Rollstuhl, während seine Frau (Inma Cuesta) bei der Geburt der gemeinsamen Tochter Carmen (Sofia Oria) stirbt. Carmen wächst bei ihrer Großmutter auf, muss schließlich aber nach deren Tod in den väterlichen Haushalt zurückkehren. Unter der neuen Ehefrau des Vaters, der habgierigen und skrupellosen Krankenschwester Encarna (Maribel Verdú), leidet sie so sehr, dass sie sich (inzwischen als Erwachsene von Macarena García verkörpert) nach einem traumatischen Zwischenfall zur Flucht entschließt und ein neues Leben als Stierkämpferin – im Verbund mit sieben Kleinwüchsigen – beginnt.
Die bekannten Elemente des Märchens, die Zwerge, die böse Stiefmutter und der vergiftete Apfel, bekommen alle ihren Auftritt in alternativer Interpretation. Das Schöne daran aber ist, dass Blancanieves dem Schneewittchen-Stoff nicht stur ein neues Setting aufzwingt, sondern sämtliche Bestandteile so miteinander zu verweben und in passende Kontexte zu setzen weiß, dass sich die Geschichte um Stierkämpferin Carmen ganz natürlich anfühlt. Berger erzeugt ein Gefühl, als sei die Grimm’sche Vorlage schon immer für den spanischen Stierkampf der 20er Jahre geschrieben worden. Das liegt nicht zuletzt an der audiovisuellen Gestaltung des Films, die mit ihrer typischen Stummfilm-Aufmachung aus schwarz-weißen Bildern, unvertonten Dialogen und mit Bedacht eingesetzten Zwischentiteln die klassische Stummfilm-Atmosphäre aus ebenjener Epoche wieder aufleben lässt.
Kraft dieser Ästhetik und der dazu passenden Schauspielleistung versprüht Blancanieves den alten Charme von theatralischer Dramatik und herzlicher Leichtigkeit, die so wunderbar zu einer märchenhaften Stummfilmumsetzung passt. Pablo Berger schuf ein liebevoll inszeniertes Werk voll von Nostalgie, Kunstfertigkeit und Spaß aus absolut spürbarer Liebe zum Film.
Originaltitel: Blancanieves
Regie: Pablo Berger
Drehbuch: Pablo Berger
Produktionsland: Spanien, Frankreich
produktionsjahr: 2012
Copyright der Bilder: AV Visionen
Jetzt hab ich ihn mir auch angesehen, nachdem er einige Wochen auf meiner Festolatte lag. Arte war ja so freundlich und hat ihn in seiner Mediathek zur Verfügung gestellt. Wirklich ein sehr schöner Film. Neben den stummfilmtypischen Mitteln hat mir auch der häufige Einsatz von Weitwinkeloptik gut gefallen.
Was das zu spät kommen betrifft: Nach dem Stummfilm ist vor dem Stummfilm, wie schon Sepp Herberger immer sagte. THE ARTIST hat halt Aufsehen erregt, weil er einen Haufen Preise abgeräumt hat, aber ansonsten war das nichts so Einmaliges. Neo-Stummfilme (oder Fast-Stummfilme) gibt es ja immer wieder mal, von TUVALU und DER DIE TOLLKIRSCHE AUSGRÄBT aus deutschen Landen bis zu den Filmen von Guy Maddin.
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