Holy Motors

Holy Motors

Leos Carax, mit bürgerlichem Namen Alex Oscar Dupont, gilt generell als schwieriger Umgang, gesprächsscheu und zurückgezogen, ganz auf sein filmisches Schaffen konzentriert. Seine Kunstwerke sind selten, doch wenn sie ihren Weg in das Kino finden, thematisieren die verschiedensten Facetten von denkbaren Lebensgeschichten außerhalb gesellschaftlicher Konventionen. Der nach dreizehnjähriger Langfilm-Abstinenz vollendete Holy Motors ist da keine Ausnahme. Carax ist einmal mehr darauf aus, den Zuschauer zu irritieren, aber auch zu inspirieren; zum Nachdenken zu bringen und zugleich rücksichtslos zu überrumpeln.

Holy Motors folgt einem Tag im Leben des Monsieur Oscar (Denis Lavant), der in einer weißen Limousine durch Paris fährt und eine Reihe von Terminen wahrnimmt. Diese lassen ihn immer wieder in vollkommen unterschiedliche Rollen schlüpfen. Das Fahrzeug fungiert dabei als Masken-, Kostüm- und Requisitenwagen zugleich. Wenn M. Oscar dann aussteigt, tritt er mal als verwahrloste Bettlerin auf einer Brücke auf, entführt als widerwärtiger Gnom ein amerikanisches Model auf einem Friedhof und versucht als glatzköpfiger Auftragskiller seinen Doppelgänger zu töten. In seiner Pause spielt er Akkordeon und versammelt eine Masse musizierender Menschen, die ihm durch eine Kathedrale folgen. Anschließend geht es weiter mit noch mehr eigenartigen Episoden bis M. Oscar schließlich Feierabend macht.

Diese surreale Aneinanderreihung von Geschichten wirkt bisweilen wie eine Kurzfilmsammlung verschiedenster Genres und Stimmungen, verknüpft durch das handlungsgebende Element des M. Oscar, hervorragend verkörpert vom enorm wandlungsfähigen Denis Lavant. Der Schauspieler, der bereits in vergangenen Filmen von Carax Hauptrollen übernahm, wie beispielsweise im fremdartigen Liebesdrama Die Liebenden von Pont-Neuf (1991), stellt hier sein ganzes Können unter Beweis.

So wirkt Holy Motors zwar auch ein Stück weit wie eine kunterbunte Denis-Lavant-Show, doch das funktioniert eigentlich ganz wunderbar. Carax schenkt einer rationalen, übergeordneten Handlung keine Aufmerksamkeit. Die Magie des Augenblicks und die Schönheit des Moments sind hier von viel größerer Wichtigkeit. Der Film wird zugleich auch zu einem Gedankenspiel über Schauspiel in seiner denkbar radikalsten Form. Es gibt keine Kameras, die M. Oscars Treiben festhalten, das Schauspiel wird zur Kunst, die ihre Kraft aus dem Vorgang selbst schöpft. Der Akt verschmilzt mit der Realität, die Trennung wird immer schwieriger, spielt aber auch keine Rolle mehr. Längst ist das wirkliche Leben mit so vielen Rollen durchsetzt, die wir tagein, tagaus einnehmen. Das gesamte Dasein ist ein Spiel, das sich die Welt zum Kino macht.

Erneut – wie auch bereits in Pola X (1999) – lässt Carax die Beschaffenheit und den Zweck der Kunst, sowie den Künstler dahinter zum Fokus seines Films werden. „Was, wenn es keinen Betrachter mehr gibt?“, fragt M. Oscar an einer Stelle und wirft damit nur eine von vielen Fragen auf, die sich um Inszenierung, Illusion und Wirklichkeit drehen. Holy Motors ist ein Kunstfilm durch und durch und als solcher sucht er die Konfrontation mit dem Zuschauer. Antworten präsentiert Carax kaum, dafür regt er zweifellos zum inneren Diskurs über die Bedeutung des Kunstbegriffs an. Und wenn das in Form eines vielfältigen, rauschhaften Kabinetts illustrer Geschichten stattfindet, von denen jeder einzelnen ein ganz eigener Kinozauber innewohnt, dann bitte gerne mehr davon!

Pola X

Pola X

Auf den diesjährigen internationalen Filmfestspielen von Cannes kehrte ein wunderlicher Franzose nach fast 13 Jahren mit einem neuen Langfilm zurück und war umgehend für die Goldene Palme nominiert. Die Rede ist von Leos Carax, der mit seinem neuesten Streich Holy Motors die Kritiker begeisterte; ganz anders als seinerzeit sein vorheriger Film Pola X aufgenommen wurde und den man auch vor allem aus finanzieller Sicht als gescheitertes Experiment bezeichnen muss. Dennoch lohnt sich ein näherer Blick auf die sperrige Literaturadaption (nach Herman Melvilles Roman Pierre: or, The Ambiguities), die eine eigentümliche Geschichte von Inzest und künstlerischer Emanzipation erzählt.

Pierre (Guillaume Depardieu) ist ein verwöhnter Erfolgsautor, reich, jung und schön. Er lebt mit seiner geliebten Mutter Marie (Catherine Deneuve) auf dem Land, in einem teuren Anwesen in der Normandie. Die andere wichtige Frau in seinem Leben ist seine Verlobte Lucie (Delphine Chuillo), die er bald ehelichen wird. Es mangelt ihm an nichts in dieser idyllischen kleinen Welt, fernab vom Lärm der Städte, wie in einer längst vergangenen Epoche. Als jedoch eine mysteriöse fremde Frau (Yekaterina Golubeva) in sein Leben tritt und sich als seine Schwester offenbart, lässt sich Pierre auf ein inzestuöses Verhältnis und eine Abkehr von seinem bisherigen Leben ein.

Zu den zentralen Motiven von Pola X gehören definitiv die Veränderung, der Wandel und das Lösen von gefestigten Verhältnissen. Dies zeigt sich einerseits im Privaten, wenn Pierre plötzlich sein isoliertes Dasein auf dem Land, seinen vermögenden Lebensstil, in dem es ihm an nichts mangelt, aufgibt und sich mit seiner neu entdeckten Schwester Isabelle nach Paris aufmacht. Auf der anderen Seite geht es für Carax allerdings noch stärker um Pierres Selbstverständnis als Künstler, indem er ihn sich einer anarchistischen Künstlerkommune anschließen lässt, die für ihre gesellschaftskritischen und bisweilen terroristischen Tendenzen ein heruntergekommenes Lagerhaus als Stützpunkt nutzt. Er wendet sich gegen die Seichtheit des Populären und die Anbiederung an die Masse, die zwangsläufig zu Lasten einer Wahrhaftigkeit im Verhältnis zwischen Künstler, Werk und Publikum geschieht und sucht nach einer neuen Ehrlichkeit in der Kunst. Dass Pierres neugewonnene Ansicht vom Künstlertum auch ein Stück weit die persönliche Einstellung des Regisseurs wiederspiegelt, ist naheliegend, gilt der Franzose selbst schließlich als eigenwilliger Künstler.

Leos Carax inszeniert Pierres Wandel in unaufgeregten Bildern. Obwohl Melvilles Romanvorlage aus dem Jahr 1852 stammt und die Handlung für den Film vom Amerika des 19. Jahrhunderts in das Frankreich der Gegenwart verlegt wurde, wirken die Handlungsorte oft seltsam zeitlos. Autos, Straßenschilder und Fernseher weisen das moderne Setting zwar als solches aus, bleiben aber kleinere Details; die Handlung scheint sich viel mehr in einem ganz eigenen, filmischen Kosmos abzuspielen. Der Kontrast zwischen dem ländlichen Idyll und der verschmutzten Großstadt hatte zu Melvilles Zeiten kurz vor und während der Industrialisierung der Vereinigten Staaten eine größere Bedeutung und ist durch die Verlagerung des Geschehens einiger Kontexte beraubt, funktioniert in Pola X aber speziell auf der ästhetischen Ebene noch tadellos. Durch die ruhige Erzählweise, die den Figuren und ihrer Umgebung Raum gibt, und die dichte, surreale Atmosphäre, geraten die sonnigen Wiesen der Normandie beim tristen Braun in Braun der Pariser Industrieanlagen in der zweiten Hälfte des Films beinahe in Vergessenheit.

Pola X ist schwerfällig und teilweise zäh bis anstrengend. Dazu trägt auch das leider etwas steife Spiel von Guillaume Depardieu als Pierre bei. Dass Carax damit an den Kassen floppte, ist keine Überraschung, doch wenn man sich auf diesen Weg eines verwöhnten Schriftstellers zum heruntergekommenen Gesellschaftskritiker einlässt, auf einen Weg von der Populärliteratur zur künstlerischen Wahrheit, dann besteht die Möglichkeit, ein ungewöhnliches, aber unheimlich faszinierendes Stück Fim zu erleben.