Vier Jahre nach der kompromisslosen Kälte seines letzten Films, Geständnisse (2010), meldet sich Tetsuya Nakashima mit dem fulminanten Exploitation-Detective-Thriller-Mix The World of Kanako zurück und tauscht jeden Funken Hoffnung radikal durch einen äußerst nihilistischen Blick auf die Dinge aus. Weiterlesen „The World of Kanako“
Schlagwort: Tetsuya Nakashima
Geständnisse
Geständnisse war Japans Beitrag für die Auszeichnung Bester fremdsprachiger Film bei der 83. Verleihung der Academy Awards, schaffte es jedoch nicht in die Liste der nominierten Filme. Zugegeben, die Konkurrenz war auch nicht ohne, aber Tetsuya Nakashima, dessen Namen man ansonsten eher mit zuckerbunten Komödien wie Kamikaze Girls (2004) und Memories Of Matsuko (2006) verbindet, lieferte mit seinem intensiven Psychodrama definitiv einen der besten Filme des Jahres 2010 ab.
Der Film beginnt bereits mit einem beeindruckenden Monolog, den Lehrerin Yuko Moriguchi (Takako Matsu) vor ihrer Klasse hält. Der Inhalt ihres nahezu emotionslosen Vortrages ist der Tod ihrer kleinen Tochter. Es sei kein Unfall gewesen, dass das Mädchen leblos im Schwimmbecken der Schule trieb. Ihre Mörder befänden sich just in diesem Moment im Klassenraum. Am Ende der gut dreißigminütigen mit Rückblicken gespickten Eröffnungszene kennen wir sowohl die Täter, als auch Moriguchis Rache; alles ist soweit geklärt, oder nicht? Tatsächlich ist diese erste halbe Stunde nämlich nur der Auftakt zu weiteren Twists und Geständnissen, die bereits gesehene Szenen immer wieder in einem anderen Licht erscheinen lassen. Die beiden Schüler Shuya (Yukito Nishii) und Naoki (Kaoru Fujiwara) stehen früh als Mörder von Moriguchis Tochter fest, doch eine konventionelle Kriminalgeschichte will Geständnisse auch gar nicht sein. Stattdessen beleuchtet Regisseur Nakashima lieber die Beziehungen der Charaktere untereinander, ihre Motivationen und die Folgen der Vergeltung der Lehrerin. Eine wichtige Rolle spielt dabei auch Musterschülerin Mizuki (Ai Hashimoto), die in Wahrheit nicht das ist, was sie vorgibt zu sein und deren Schicksal unweigerlich mit dem Shuyas verknüpft ist.
Tetsuya Nakashima hebt mit seiner Liebe zum Detail eine besondere Stärke des Films hervor: Das Gefühl von Verunsicherung und Verstörung. Es sind die kleinen erschütternden Kontraste zwischen positiven und negativen Eindrücken, die die Stimmung ein ums andere Mal in wirklich finstere Gefilde kippen lassen. Versehen wurde das Ganze mit Tritten in die Magengegend soziokultureller Wertvorstellungen. Anders allerdings als bei Filmen wie Battle Royale (Kinji Fukasaku, 2000) zeigt Nakashima nicht eine allgemein bösartige Natur des Menschen, die auch in Schülergemeinschaften ausbrechen kann, sondern stellt viel mehr die individuellen Vergangenheiten der Charaktere in den Vordergrund. Klar ist jedoch: Grausamkeiten können sich überall ereignen, wichtig ist aber dafür in erster Linie die eigene Geschichte des Charakters und nicht einfach nur die bloße Eigenart der Spezies Mensch.
Der für Nakashima sonst so typische Stil aus farbenfrohen Kostümen und Inneneinrichtungen wich bei Geständnisse einer realitätsnahen, aber merklich unterkühlten Farbpalette aus überwiegend Grau- und Blautönen. Die klaren Bilder werden immer wieder mit Zeitlupenaufnahmen verknüpft, die sich in diesem Fall sogar äußerst gut in das visuelle Konzept einfügen und nicht auf prätentiöse Weise aus der Reihe fallen. Vor allem das furiose Finale gewinnt dadurch unheimlich an Intensität. Getragen wird die hypnotische Atmosphäre außerdem vom herausragenden Soundtrack, der unter anderem mit Bands wie Radiohead und Boris bestückt ist.
Geständnisse ist definitiv Tetsuya Nakashimas ambitioniertestes Werk, ein handwerklich hervorragendes, mitreißendes Drama, das mit seiner beklemmenden Sogwirkung zu begeistern weiß und deshalb völlig zu Recht beim Japan Academy Prize zum besten Film des Jahres gekürt wurde.
Kamikaze Girls
Der Originaltitel Shimotsuma monogatari heißt wörtlich übersetzt „Shimotsuma-Geschichte“, wobei Shimotsuma ein kleines ländliches Kaff unweit von Tokyo ist. Der internationale Titel lautet allerdings – wohl der Einfachheit halber – Kamikaze Girls, was zwar wesentlich prägnanter klingt, unglücklicherweise aber nun den selben Namen wie eine japanische Filmreihe mit pornographischem Inhalt trägt. Wer jedoch nicht gerade die obskursten Importshops aufsucht, sollte eine Verwechslung vermeiden können und bekommt eine quietschbunte Komödie von Tetsuya Nakashima serviert, inklusive Rokoko-Kleidchen und Bikergangs.
Versailles im 18. Jahrhundert, dorthin verschlägt es die 17-jährige Momoko (Kyôko Fukada) in ihren Tagträumereien. Die dekadente Mode des französischen Rokoko-Adels hat es ihr derart angetan, dass sie sich in Tokyo stets die neuesten Kleider kauft und tagein tagaus nichts anderes trägt. Momokos Mutter, eine ehemalige Prostituierte, hat die Familie längst verlassen, ihr Vater, ein Ex-Yakuza, verdient sich seine Brötchen mit dem Verkauf gefälschter Designermode. Als der Betrug auffliegt, sind er und Momoko gezwungen, die Stadt zu verlassen und aufs Land, nach Shimotsuma, zur etwas wirren Großmutter zu ziehen. Um sich weiterhin aufputzen und in teure Kleider hüllen zu können, braucht Momoko allerdings dringend das nötige Kleingeld. Kurzerhand beschließt sie, die Restbestände der falschen Markenkleidung zu verschleudern. Dabei lernt sie die rebellische Ichigo (Anna Tsuchiya) kennen, die ihr immer wieder völlig begeistert große Klamottenmengen für sich selbst und ihre Frauen-Bikergang abkauft. Obwohl keine der beiden es zugeben würde, werden sie schnell unzertrennliche Freunde. Und schon bald kommt Momoko nicht umhin, ihre neugewonnene und nun einzige Freundin auf eine Mission nach Tokyo zu begleiten, um eine legendäre Stickerin zu finden, denn Ichigo plant für die abdankende Anführerin ihrer Gang eine ganz besondere Stickarbeit…
So skurril der Plot bis hierhin auch ist, ist er zugleich eine wunderbare, stilisierte Veranschaulichung japanischer Pop- und Jugendkulktur. Die Charaktere sind mit ihrem auffälligen Äußeren und ihren seltsamen Eigenheiten letztlich nicht schlecht getroffene – wenngleich überzeichnete – Abbilder realer Phänomene. Momokos Hang zur sogenannten Lolita-Mode ist in Japan zwar nicht allgegenwärtig, aber weder selten, noch eigenartig. Im Film kauft sie ihre Kleider bei einem Label namens Baby, The Stars Shine Bright, einer übrigens tatsächlich existierenden Marke für derartige Modewünsche. Auf der anderen Seite passt die aufmüpfige, toughe Ichigo genau ins Bild der in den 80ern aufkommenden Subkultur, die man in Japan gemeinhin als Yankī bezeichnet: Rebellische Jugendliche, die ihrer kriminellen Ader freien Lauf lassen und der Obrigkeit entgegenwirken, wo sie nur können. Präziser definiert man Mädchen wie Ichigo sogar als Teil der Bōsōzoku. Unter diesem Namen fasst man vor allem jugendliche Gangs zusammen, die mit illegal aufgerüsteten Motorrädern und -rollern die Straßen unsicher machen und sich vornehmlich in Pilotenoveralls oder bestickte Mäntel kleiden.
Nakashimas Film ist zum einen zwar eine spaßige Komödie, die in schrillen Farben daherkommt, andererseits aber auch eine Kritik am Trendwahn und Gruppenzwang der Japaner, der die tatsächlichen Bedürfnisse eines Individuums leugnet und ihm stattdessen ein falsches Glück vorgaukelt, wie Momoko und Ichigo am eigenen Leib erfahren müssen.
Während einiger animierter Sequenzen und einer visuell äußerst ansprechenden Collage aus Renaissance-Gemälden versucht Momoko dem Zuschauer bereits zu Beginn des Filmes weiszumachen, dass sie nichts als ihre hübschen Kleider brauche, dass sie Freunde als überflüssig und unnötig erachte. Ichigo hingegen ist der Meinung, dass man nur weit kommt, wenn man hart ist und dass eine Frau ohnehin niemals weint. Im Laufe ihres gemeinsamen Abenteuers werden beide Mädchen natürlich eines besseren belehrt, doch Kamikaze Girls kommt dabei glücklicherweise ohne aufgesetzten Kitsch aus und setzt in einer ungewöhnlichen Freundschaft in einer Welt aus falschen Markenprodukten und falschen Idealen auf echte Emotionen.