Welt am Draht

Welt am Draht

Auf der Suche nach mehr Bedeutung, künstlerischem Anspruch und Qualität im Medium Film bildete sich in Frankreich in den späten Fünfziger Jahren die Nouvelle Vague. Nur wenige Jahre später folgte darauf das entsprechende Äquivalent aus Deutschland: Der Neue Deutsche Film. Einer der wichtigsten Vertreter dieser Bewegung war Rainer Werner Fassbinder, ein Filmliebhaber und außerordentlicher Autorenfilmer. Kein Wunder also, dass sein überlanger Science-Fiction Welt am Draht bedenklos als einer der Höhepunkte deutscher TV-Produktionen bezeichnet werden kann.

Die Handlung der Romanadaption dreht sich um Fred Stiller (Klaus Löwitsch), einen Mitarbeiter des Instituts für Kybernetik und Zukunfstforschung (KIZ), der nach dem unerklärlichen Tod des Institutsdirektors Professor Vollmer, dessen Amt übernimmt. Der Verstorbene hatte jedoch kurz vor seinem Ableben eine wichtige Entdeckung gemacht, die unmittelbar im Zusammenhang mit dem aktuellen Projekt des Instituts zu stehen schien: Der Simulation einer virtuellen Realität. Die Rechner des KIZ laufen Tag und Nacht, um eine Kleinstadt mit etwa zehntausend sogenannten Simulationseinheiten zu simulieren. Diese Simulationseinheiten sind zwar nichts weiter als bloße elektronische Impulse, doch wurden sie mit einem Bewusstsein ausgestattet, sodass sie in ihrer virtuellen Umgebung ein Leben  wahrnehmen und führen, genau so wie die Menschen der realen Welt. Bis auf eine einzige Kontaktperson, die vom Institut installiert werden musste, sind sich die Simulationseinheiten ihrer Künstlichkeit nicht gewahr. Die äußerst wichtigen Informationen, die er herausgefunden hatte, teilte Professor Vollmer einem Mitarbeiter namens Günther Lause mit. Doch bevor es Lause gelingt, diese Informationen an Fred Stiller weiterzuleiten, verschwindet er auf einer Party von Stillers Vorgesetztem Siskins (Karl-Heinz Vosgerau) spurlos. Stiller versucht der Sache nachzugehen, herauszufinden, wohin Lause verschwand und was er so wichtiges zu sagen hatte. Allerdings scheint sich wenige Tage später niemand im Institut mehr an einen Mitarbeiter namens Günther Lause zu erinnern. Stattdessen empfiehlt man Stiller, eine kurze Auszeit vom Arbeitsstress zu nehmen. Möglicherweise sei er nur überarbeitet und daher ein wenig verwirrt und paranoid. Nach und nach ist sich auch Stiller nicht mehr sicher, ob er seinem eigenen Geisteszustand trauen kann, bis er auf einmal eine Simulationseinheit mit dem Namen und dem Aussehen Günther Lauses in der virtuellen Realität entdeckt…

Fassbinder nimmt sich für seinen Film viel Zeit. In den gut 205 Minuten lässt er seinen Charakteren aber auch genug Raum, sich zu entfalten. Besonders die Entwicklung Stillers, der tatsächlich einer erschreckenden Wahrheit auf der Spur ist, ist glaubwürdig in Szene gesetzt; nicht zuletzt liegt das auch an der starken Präsenz eines Klaus Löwitsch. Die Dialoge sind lang und zahlreich, erscheinen aber trotz des verbalen Overactings, einem Überbleibsel aus Fassbinders Theaterzeit, zu dem der Regisseur seine Darsteller ganz bewusst treibt, nie abgedroschen oder lächerlich. Tatsächlich geht es nicht selten um viel mehr als um ein bloßes Forschungsprojekt. Philosophische Gedankenexperimente und existentialistische Überlegungen legt Fassbinder seinen Figuren in den Mund, ohne, dass es allzu aufgesetzt wirkt.

Optisch geben sich vor allem die Szenen innerhalb des KIZ kühl, teilweise steril. Auffallend ist vor allem der Einsatz von Spiegeln in zahlreichen Szenen, die metaphorisch auf das zu Grunde liegende Konzept des Filmes hinweisen. Die Musik ist bisweilen ziemlich prägnant; speziell in den Szenen, in denen neue plotrelevante Informationen sowohl Stiller als auch den Zuschauer übermannen, bohrt sie sich passenderweise mit dröhnenden Klängen in den Schädel.

Fassbinders breit angelegte Science-Fiction ist im Übrigen eine Romanadaption von Daniel Galouyes „Simulacron-3“. Im Jahr 1999 drehte Josef Rusnak eine weitere Verfilmung des selben Stoffes namens The 13th Floor, der ob seiner deutlich kürzeren Laufzeit und weniger dialoglastigen Gestaltung zwar massenkompatibler sein mag, Fassbinders Welt am Draht jedoch in Sachen Komplexität unterliegt.

6 Gedanken zu “Welt am Draht

  1. Ah, mir scheint, so langsam gewinne ich an Lesern. Das freut mich.
    Auch dass ich in deinem Blog verlinkt bin, Marald… danke. Wirst natürlich auch direkt in meine Blogroll aufgenommen. Dein Blog wurde mir ja letztens gezeigt, wirklich nicht uninteressant. =)

    Like

  2. Hallo Robin,

    als aktiver Science Fiction Liebhaber besitze ich die DVD natürlich längst, da wir es hier mit einem der raren wirklich guten deutschen Beiträge des Genres zu tun haben! Außer diesem TV-Film fallen mir spontan nur noch die filmhistorisch bedeutsameren METROPOLIS und FRAU IM MOND von Fritz Lang ein. Als Dystopie mag noch ansatzweise Tom Toelles Fernsehspiel DAS MILLIONENSPIEL durchgehen. Aber sonst?

    Mein Lieblings-Fassbinder ist aber unzweifelhaft die monumentale TV-Verfilmung von BERLIN ALEXANDERPLATZ, die unabhängig von der großartigen expressionistischen Vorlage eine visuelle und erzählerische Kraft entfaltet, die im jüngeren deutschen Fernsehen/Kino fast einzigartig bleibt.

    PS
    Mir gefällt das Design deines Blogs!

    Like

  3. Ich kenne – als ehemaliger Science-Fiction-Liebhaber – nur Galouyes Roman, der mir nach all den Jahren noch erstaunlich Präsent ist. Danach war ich auf Fassbinders Verfilmung neugierig, fand aber nie Gelegenheit, sie zu sehen.
    Nun ist sie wie’s scheint auf DVD erschienen. Und Dein interessanter Text hat die alte Neugierde wieder geweckt!

    Like

  4. Wobei „The 13th Floor“ wiederum dem oberflächlichen „Matrix“ unterlag… – Übrigens interessant, dass der Zweiteiler „Welt am Draht“ völlig an mir vorbeiging: Wir hatten uns nämlich schon 1972 von der Serie „Acht Stunden sind kein Tag“ begeistern lassen. Es kommt mir vor, als sei man – insbesondere als „Kind“ – damals gar nicht in der Lage gewesen, alles zu konsumieren (in dem Fall zu würdigen), was Fassbinder in den wenigen Jahren zustande brachte.

    Like

Kommentieren